Mein Sohn ist enttäuscht. Er hat noch keine einzige nackte Frau im Distanzunterricht gezeigt bekommen. Er ist allerdings auch schon in der 9. Klasse und nicht in der Zweiten. Kürzlich ging ein Aufschrei durch die Presse und durch sämtliche Lehrer- und Elterngruppen. Mehrere Videokonferenzen, u.a. von Grundschülern, wurden während des Unterrichts gekapert und die Lehrkraft rausgeschmissen, um die Schülerinnen und Schüler mit obszönen Bildern und Nachrichten zu belästigen. Im niederbayerischen Landshut ermittelt die Kripo deshalb wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Im Unterallgäu störte ein junger Mann den Unterricht an einer Mittelschule mit lauter Musik, Gesängen, Provokationen und Zwischenrufen. Störungen von Videokonferenzen waren vor allem zu Beginn des Distanzunterrichts ein größeres Problem – zum Glück spielte Pornografie dabei nur sehr selten eine Rolle. Das Phänomen hat mittlerweile auch einen Namen: „Zoom-Bombing“.
Das Interessante daran ist nun, wie darüber gesprochen wird. Es ist viel von Hacking die Rede. Digitaler Unterricht wird als riskantes Unterfangen, bei dem jederzeit ein verrückter Perversling in die Kinderzimmer der Schüler eindringen kann, betrachtet. Als ob die deutsche Digitalisierungsangst nicht schon reichen würde.
In fast allen Fällen ist der Grund für die feindliche Übernahme aber schlichtweg die Weitergabe der Zugangsdaten. Die Userin JUANA postet auf TikTok ein Kurzvideo mit folgendem Aufruf: „Schreibt eure Videokonferenz Links (sic!) oder Codes mit Wochentag und Uhrzeit in die Kommentare. #onlineunterricht #zoom #viral #eswirdlustig“.
Unter dem Beitrag finden sich mehrere hundert Kommentare. Lauter Leute, die wollen, dass ihre Videokonferenz „gehackt“ wird. Was für ein Spaß! Als würde man einen Clown ins Klassenzimmer bestellen, der die Tür mit einem Flammenwerfer abfackelt und dem Lehrer auf den Tisch kackt. Das wäre im Reallife halt sehr teuer. Im digitalen Klassenzimmer gibt’s den Spaß für lau. Und auf YouTube kann man mittlerweile schon Tutorials zum Umgang mit Zoom-Bombing gucken.

RAUS AUS DER DIGITALEN UMNACHTUNG

Während bisher die Schüler zur Schule gegangen sind, kommt die Schule nun zu den Schülern. Und genau da zeigt sich, dass die Schule noch viel lernen muss. Auf alle Fälle muss sie sich in einem Bereich, der im 21. Jahrhundert unser aller Leben maßgeblich prägt, beweisen. Es ist genau ein Jahr her, dass die Schulleiterin einer Grundschule zu mir sagte: „Digitale Kompetenz? Das brauchen wir in der Schule nicht, das ist Privatsache, was die Kinder mit dem Handy oder dem Computer machen. Wir können uns nicht um alles kümmern!“ Mir fiel damals die Kinnlade runter. Heute tastet die Schulleiterin im Dunkel der digitalen Umnachtung vermutlich nach der eigenen Kinnlade.
Natürlich geben sich Lehrerinnen und Lehrer eine Menge Mühe, um unter den gegebenen Bedingungen möglichst guten Unterricht zu gestalten. Gleichzeitig warten sie darauf, dass alles sobald wie möglich wieder beim Alten ist. Spaß am Out-of-the-Box-Denken entwickeln wohl die Wenigsten. Stattdessen haben viele Angst, gerade in puncto Datenschutz etwas falsch zu machen. In Lehrergruppen kursieren in diesem Zusammenhang schon Knastfantasien. Wäre die Rechtsauffassung einzelner Lehrkräfte maßgeblich, würden Kollegen, die den Kindern in einer Videokonferenz etwas aus einem Buch vorlesen, bereits mit einem Fuß im Knast stehen – weil DATENSCHUTZ! Kein Wunder, dass der Grundtenor in diesen Gruppen deshalb immer noch lautet: „Scheiß Datenschutz!“ In einem Forum, in dem jeder – unabhängig von der eigenen Kompetenz – seinen Senf dazugeben kann, ist Lernen nicht möglich. Das ist, wie wenn ein Fischotter in einer 6. Klasse Mathe unterrichten würde – wahrscheinlich sehr unterhaltsam und mitunter niedlich, aber Mathe kann man danach nicht.

HOMESCHOOLING – DATENSCHUTZ AM RANDE DES NERVENZUSAMMENBRUCHS

Kinder in Videokonferenzen und Datenschutz sind sowieso so eine Sache. Ein bisschen wie Akrobatik mit Katzen. Es kann gutgehen, aber das ist selten. Als meine Tochter im Dezember wegen einer an Corona erkrankten Mitschülerin in Quarantäne war, lautete der erste Satz einer Mitschülerin in der allerersten Videokonferenz: „Wer von uns hat denn jetzt Corona?“ Und ein anderes Kind plärrte natürlich umgehend: „Die PIAAA!“ (Name selbstverständlich geändert). Der Lehrer weinte fast und rief verzweifelt – ja was wohl? – genau: „DAAATENSCHUUTZ! Kinder, das ist DAAATENSCHUUUTZ!“
Warum das so ist, hat er aber nicht erklärt. Wäre vielleicht eine Chance gewesen, mal darüber zu sprechen und zum Beispiel zu erläutern, warum Zugangsdaten auf keinen Fall weitergegeben werden sollten. Was haben die Kinder also daraus gelernt? Dass Datenschutz etwas ist, was Lehrer zur Verzweiflung bringt. Keine Ahnung, warum. Aber sicher ein guter Punkt, um anzusetzen, wenn man Lehrer richtig ärgern will.
Kinder brauchen kompetente und souveräne Vorbilder. Manche Dinge müssen einfach alltäglich werden, weil sie längst Teil unseres Alltags sind. Wir wissen schließlich auch ganz genau, warum wir uns die Zähne putzen, obwohl wir es nur wenige Minuten am Tag tun.

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