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WDR-Doku zeigt, wie wichtig Datenschutz ist

Es ist ja so: Manchmal sind wir uns der ganzen Bedeutung einer Sache nicht im Geringsten bewusst. Wir schätzen etwas völlig falsch ein und sind auch noch dankbar für Dinge, die wir als Geschenk auffassen. Die Nutzung digitaler Dienste und sozialer Netzwerke zum Beispiel. Alles gratis! Oder das trojanische Pferd. Ein tolles Geschenk. Ein einziger Typ war misstrauisch: Laokoon. Mit einem Speer stieß er auf das Pferdchen ein – und prallte zurück. Zur Strafe schickte Athene ihm Schlangen, die ihn quälten und schließlich gemeinsam mit ihm und seinen Söhnen als Laokoon-Gruppe in Form einer antiken Marmorskulptur in die Kunstgeschichte eingingen. Laokoon heißt passenderweise auch die Künstler:innnengruppe von Cosima Terrasse, Moritz Riesewieck und Hans Block, die sich in ihrem jüngsten Werk dem Thema Datenschutz widmet.
Made to measure – Eine digitale Spurensuche lautet der Titel der Dokumentation, die der WDR ausstrahlt und die bis Ende August 2022 noch in der ARD-Mediathek zu sehen sein wird. Wie brisant das Thema Datenschutz ist, zeigt bereits die Triggerwarnung, die vor dem Film ausgestrahlt wird: „Der nachfolgende Film enthält Szenen, die für Zuschauer:innen, die an Depressionen oder an einer Essstörung leiden sowie für Menschen in labilen Zuständen möglicherweise belastend sein könnte.“ Wie jetzt? Datenschutz und Depressionen? Ja! Das Experiment zeigt auf erschütternde Weise, inwiefern Big Data unsere psychische Gesundheit beeinträchtigen kann.
Zur Fragestellung: „Ist es möglich, allein anhand persönlicher Online-Daten das Leben eines Menschen zu rekonstruieren? Seine Art zu denken, sprechen, handeln. Sein Wünsche, Ängste, Schwächen? Ist es möglich, aus diesen Daten einen Doppelgänger oder ein Doppelgängerin zu erschaffen, ohne diesem Menschen je begegnet zu sein?“
Es klingt wie eine Dystopie. Eine Identität wird analysiert und kopiert. Geht das? Als Quelle dienen ausschließlich die Google-Suchen aus den vergangenen fünf Jahren. Die Teilnehmerin des Experiments heißt Lisa. Sie hat langes blondes Haar und ist neugierig. Ihre Doppelgängerin heißt Nathalie, ist Schauspielerin und hat ebenfalls blondes Haar. Nathalie studiert Lisa anhand ihrer Google-Suchen – und dann schlüpft sie in die Rolle der jungen Frau, die erschrickt und irgendwann abbrechen muss, weil sie merkt, dass ihre Doppelgängerin offenbar mehr über sie weiß als sie selbst. Über 100 Dateien mit 100.000 Datenpunkten wurden ausgewertet, um ein Bild von Lisa zu entwerfen. Was dabei herausgekommen ist, muss als gruslig bezeichnet werden, denn wenn wir mit Google interagieren, sind wir vollkommen ehrlich und verletzlich. Wir lassen die Hosen runter. Komplett. Es geht uns nicht um das Bild von uns, das wir nach außen tragen wollen, wie dies zum Beispiel bei den sozialen Netzwerken der Fall ist. Es ist nicht Selbstdarstellung, sondern vollkommene Selbstentblößung, die im Mittelpunkt steht. Wir suchen im virtuellen Universum nach Lösungen für unsere peinlichsten Probleme, wir erzählen Google von unseren Ängsten und unseren Schwächen – und wir sind uns nicht dessen bewusst, was dann passiert. Lisa hat zum Beispiel unter einer massiven Essstörung gelitten. Immer wieder googelte sie Kalorien und sah sich Fitnessvideos an. Als schließlich klar war, dass sie eine Essstörung entwickelt hatte, hörte das Ganze aber nicht auf. Obwohl sie nicht mehr aktiv nach entsprechenden Inhalten suchte, wurden ihr immer wieder Videos und Seiten angezeigt, die sie erneut auf ihre Magersucht zurückwarfen. Und das ist der Knackpunkt: Beim Marketing geht es nicht nur ums Verkaufen, sondern darum, dass Selbst- und Weltbilder geprägt werden – es geht um unsere Wahrnehmung und damit letztendlich um unsere Identität. Wenn wir uns nicht mit Menschen, sondern immer nur mit einem System austauschen, werden wir zum selbstreferentiellen System, das sich immer stärker in eine Richtung entwickelt. Was das bedeutet, sehen wir gegenwärtig an den Filterblasen, aus denen man kaum noch herauskommt. Wer ein paar Mal nach frauenfeindlichen Inhalten sucht, wird immer mehr davon angezeigt bekommen – auch dann, wenn er nicht mehr aktiv danach sucht. So wird ein Mensch zum Frauenfeind.
Sandra Matz, eine Expertin für psychologisches Targeting aus New York erklärt in der Doku: „Wir können den seelischen Zustand von Millionen von Menschen mit nur wenigen Klicks vorhersagen.“ Und wenig später: „Irgendwo im Hintergrund ziehen sie die Strippen und lassen uns tanzen wie Marionetten. Einfach, weil sie unsere innersten Bedürfnisse kennen.“
In der 45-minütigen Dokumentation kommen mehrere Experten zu Wort, etwa die Datenschützerin Frederike Kaltheuner,   der Google Marketer Patrick Berlinquette, der ehemalige Youtube-Entwickler Guillaume Chaslot und natürlich der Jurist und Datenschutzaktivist Max Schrems. Sie verdeutlichen, worum es eigentlich geht – nämlich um nichts Geringeres als unsere Identität. Darum, dass wir nicht Herr im eigenen Hause sind, wie Freud das schon ausdrückte.
Wer unsere intimsten Gedanken kennt, unsere Ängste und Schwächen, kann sich ein besseres Bild von uns machen als wir selbst, weil wir viele Dinge nicht sehen wollen oder können.
Made to measure sensibilisiert das Publikum genau dafür und zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass Datenschutz kein verschnarchtes Randthema ist, sondern eine höchst brisante Angelegenheit, die über unsere Zukunft bestimmt. Unbedingt ansehen!

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