Über Blüte und Niedergang des Adresshandels

Es ist ja so: Kundendaten gehören zu den kostbarsten Rohstoffen des 21. Jahrhunderts. Besonders wertvoll sind Adressdaten – am allerbesten sind „veredelte“ Adressdaten. Kürzlich habe ich durch einen menschlichen Fehler bei der Unibibliothek äußerst edle Adressdaten zugeschickt bekommen. Ich hatte eine Benachrichtigung darüber erhalten, dass ich meine Medien abgeben sollte. In dem Briefumschlag war allerdings nicht nur das Anschreiben an mich, sondern noch weitere Anschreiben enthalten – mit Name, Anschrift, Bibliotheksnummer und einer Liste der ausgeliehenen Bücher. In diesem Falle hatte nicht die Technik versagt, sondern der Mensch, der die Anschreiben in Umschläge steckt, war vielleicht verliebt oder in Gedanken bei seiner Einkaufsliste gewesen. Auf alle Fälle nicht bei der Sache. Ich hingegen hatte etwas geschenkt bekommen, das mir äußerst unangenehm war. Ich empfand es als starken Eingriff in die Privatsphäre anderer, die Liste ihrer ausgeliehenen Bücher zu sehen. Und selbst die Adressdaten fand ich bereits zu viel. Natürlich kann man heute viele Adressen im Internet finden. Allein das gute alte Telefonbuch im Onlineformat ist eine ergiebige Quelle.
Aber richtig interessant wird es eigentlich erst, wenn Haushaltsadressen „angereichert“, also unter Berücksichtigung weiterer Kriterien selektiert werden. Kaufkraft, Alter und Familienstand wären z.B. solche Kriterien. Im Falle der Adressen, die ich bekommen hatte, konnte ich z.B. sagen, dass es sich um Studierende handelte und durch die Liste der ausgeliehenen Bücher konnte ich Rückschlüsse auf ihr Studienfach schließen.
Dass die eigene Adresse irgendwo im Umlauf ist, ist ein unangenehmer Gedanke. „Alter, ich weiß wo dein Haus wohnt!“ (alternativ: „Ich weiß, wo dein Bett schläft!“) ist ganz klar eine Drohung.
Der Adressenhandel, auch Listbroking genannt, floriert. Er ist ein integraler Bestandteil des Direktmarketings. Für wenige Cent pro Adresse können Unternehmen an Kundendaten kommen, um potenzielle Kunden direkt anschreiben zu können. Adresshändler akquirieren die Adressen entweder selbst oder sie greifen auf Fremdadressen (z.B. aus Kundendatenbanken von Versandhändlern) zurück. § 29 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 BDSG regelt, dass Daten für den Adresshandel aus Quellen stammen dürfen, die allgemein zugänglich sind, etwa aus dem bereits erwähnten Telefonbuch, aus Zeitungen, von Internetseiten oder aus Handels- und Vereinsregistern.
Rechtsgrundlage für den Adresshandel ist bisher Artikel 6 Absatz 1 lit. f DSGVO – „berechtigte Interessen“. Unternehmen haben ein berechtigtes Interesse daran, Kunden zu akquirieren. Aber in den Augen der meisten Landesdatenschutzbeauftragten sollte das ohne Zustimmung der Betroffenen (Artikel 6 Absatz 1 lit. a) eigentlich nicht mehr möglich sein. Immerhin steht a auch vor f im Alphabet! Die meisten Verbraucher:innen (und dazu zähle ich mich definitiv auch selbst) wollen nicht mehr mit „Verbraucherinformationen“ (aka Werbung) zugeschüttet werden. Nun stellt sich natürlich die Frage: Was ist wichtiger? Die Interessen der Unternehmen oder die der Verbraucher:innen? Eine Möglichkeit, verstopfte Briefkästen zu verhindern, ist ein Eintrag auf einer „Robinsonliste“, die in Deutschland vom Deutschen Dialogmarketing Verband e.V. (DDV), der Lobby der Adresshändler, und vom Interessenverband Deutsches Internet (I.D.I.) geführt werden.
Sollten allerdings die Interessen der Verbraucher:innen über die der Unternehmen gestellt werden, wäre ein Eintrag auf der Robinsonliste nicht mehr erforderlich. Eigentlich sollten Andressen von Verbraucher:innen nämlich nur nach ausdrücklicher Einwilligung der Betroffenen gehandelt werden dürfen. Und mal ehrlich – wer will das schon? Im Grunde genommen müssten Adresshändler dieser Informationspflicht aber nachkommen, argumentieren Datenschützer. Ich stelle mir vor, wie ich und Millionen andere Menschen einen Anruf bekommen: „Wäre es für Sie okay, wenn Ihre Adresse für einen Cent an alle möglichen Unternehmen verkauft werden könnte? Ja, nein, vielleicht? Möglicherweise an Unternehmen, die Hundefutter herstellen, aber nicht an Stromkonzerne und Versicherungen?“
Eine ganze Branche steht vor dem Aus, wenn die Adresshändler dazu verpflichtet werden, ihrer Informationspflicht nachzukommen. Deutschlandweit wäre freilich eine einheitliche Regelung erforderlich – alle Datenschutzbehörden wären für eine Neubewertung der Situation. Alle? Nein, die Datenschutzbehörde von Nordrhein-Westfalen findet, dass der Adresshandel in seiner bisherigen Form zulässig bleiben sollte. Kein Wunder, in dem Bundesland haben ja auch die größten Adresshändler (die AZ Direct GmbH, die zur Arvato/Bertelsmann AG gehört und die Deutsche Post Direkt GmbH) ihren Sitz…

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