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© Bildagentur PantherMedia / willeecole
In den vergangenen Wochen entsteht zusehends das Gefühl, dass der Alltag in eine Dystopie kippt. Zehn Minuten Social Media oder drei Minuten Nachrichten reichen schon, um alptraumhafte Szenarien in unseren Köpfen entstehen zu lassen. Corona wütet nicht mehr „irgendwo im Inneren Chinas“, sondern ist hier angekommen – Corona Bavariae statt Patrona Bavariae. Wir beten nicht mehr zur Schutzheiligen unseres Bundeslandes, sondern horten Nudeln und Klopapier und haben Angst. In lustigen Videos, die sich über die sozialen Netzwerke verbreiten, wird eine Frau, die an der Bushaltestelle niest, totgeschossen und dann mit Desinfektionsmittel besprüht. Lachen soll ja befreiend sein und Humor schafft Distanz.
Das Video finden deshalb so viele witzig, weil es auf den Punkt bringt, was uns im Moment am wichtigsten ist: den eigenen Arsch zu retten. Und das kann man im Zusammenhang mit einer Infektionskrankheit immer noch am besten, indem man sich von mutmaßlich Erkrankten fernhält. Wie geil wäre es, wenn diese Leute einen warnen könnten? „Komm mir nicht zu nahe! Ich hab Halskratzen!“ Wenn jeder potenziell Betroffene mit einer Schelle, Glocke oder Ratsche auf sich aufmerksam machen würde – das wäre doch großartig!
Solche Gedanken sind im Moment gar nicht so selten. Einerseits ist das verständlich, weil sich kein Mensch mit irgendwas anstecken will – außer vielleicht mit harmloseren Erkältungskrankheiten, um nicht bestimmten Verpflichtungen nachkommen zu müssen.
Und weil wir im Zeitalter der Digitalisierung fast alle sowieso ein kleines Glöckchen mit uns herumtragen, das zum Beispiel bimmelt, wenn wir 6.000 Schritte am Tag geschafft haben oder wenn gerade ein Update reingekommen ist – warum sollten wir das nicht auch zur Seuchenprävention einsetzen?
APPS WIE IM MITTELALTER?
Es gibt tatsächlich Überlegungen, die Verbreitung des Virus durch die Verarbeitung der Standortdaten Erkrankter einzudämmen. In China wird das auch gemacht. Mit einer App kann jeder nachgucken, wo sich nachweislich Infizierte vor ihrer Quarantäne aufgehalten haben. Das suggeriert ein Gefühl von Sicherheit. In einer Doku, die kürzlich auf Arte ausgestrahlt wurde, demonstrierte eine Frau aus Peking, wie sie in Zeiten der Corona-Ausgangssperre ihre Einkäufe organisiert: Mit Hilfe einer App ortet sie Erkrankte und liest anhand ihrer Bewegungsprofile ab, wo sie selbst lieber nicht einkaufen geht: „In einem Gemüseladen drei Kilometer entfernt, hat ein Infizierter eingekauft. Das ist in Ordnung, denn ich würde sowieso nicht drei Kilometer gehen, um einen Apfel zu kaufen!“
Viele wünschen sich das auch für Deutschland. Das Problem dabei ist nicht nur, dass Sicherheit lediglich suggeriert wird und keineswegs gewährleistet werden kann, dass zum Beispiel symptomfrei Erkrankte oder nicht getestete Personen einen nicht anstecken – und diese gefühlte Sicherheit macht letztendlich unvorsichtig. Problematisch an der Sache ist auch der Datenschutz. Jetzt mögen einige natürlich einwenden: „Aber der Schutz der Allgemeinheit ist viel wichtiger!“ und meinen „Dass ich den Scheiß nicht krieg, ist ja wohl entscheidend!“, aber wäre ein derartiger staatlich erzwungener Eingriff in die Privatsphäre wirklich wünschenswert? In China wird darüber nicht diskutiert – da wird ohnehin jeder staatlich überwacht. Mit der App Alipay Health Code wird auf der Basis von erfassten Gesundheitsdaten zum Beispiel entschieden, ob und wie lange jemand in Quarantäne muss. Hierzulande entscheidet das immer noch das Gesundheitsamt.
Und dann gibt es noch das Infektionsschutzgesetz (IfSG), das in §16 die zuständige Behörde dazu ermächtigt, bei auftretenden Infektionskrankheiten „alle notwendigen Maßnahmen zur Abwendung der dem Einzelnen oder der Allgemeinheit drohenden Gefahren“ zu treffen. Standortdaten Erkrankter könnten in diesem Falle eine wertvolle Hilfe sein, um Kontaktpersonen zu ermitteln. Wenn ein Infizierter vor drei Tagen einen Kohlkopf in meinem Supermarkt gekauft hat, ist das in der Regel für mich nicht relevant. Habe ich allerdings im Supermarkt eine Bekannte getroffen, die mir gleich um den Hals gefallen ist und mich abgeküsst hat, weil sie sich so gefreut hat – und diese Bekannte ist nachweislich erkrankt, dann wäre es durchaus hilfreich, das zu erfahren. Vielleicht kennt sie ja eine Menge Leute und fällt jedem gleich um den Hals. Da kann es schon mal passieren, dass man einzelne Kontaktpersonen vergisst.
Ein entscheidender Punkt, der im Datenschutz immer zentral ist, ist eine freiwillige Einwilligung. Es muss außerdem transparent sein, welche Daten verarbeitet werden, wie lange das geschieht und welchem Zweck die Sache dient. Im Falle der Ermittlung von Kontaktpersonen wird kaum jemand wollen, dass Mitmenschen nicht informiert werden.
Aus der Sache eine App zu basteln, die einen wie in einem Computerspiel durch eine Welt kontaminierter Zonen lotst, ist vermutlich weniger zielführend als gedacht. Wir können ruhig einen Apfel kaufen, auch wenn einige Tage vorher ein Infizierter in dem Laden war. Angesichts der wachsenden Fallzahlen, würden wir auch völlig verrückt werden, wenn jeder Erkrankte getrackt und jedes Bewegungsprofil in einer App angezeigt würde.
Eins dürfen wir auf keinen Fall vergessen: Hände waschen und Abstand halten. Da gibt’s auch keinerlei Probleme mit dem Datenschutz.
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