Kürzlich hat Zündfunk-Journalist Gregor Schmalzried einen Text über Social Media veröffentlicht: „Die übernächste Bundeskanzlerin postet heute vielleicht auf YouTube – und nichts daran ist peinlich“. Auf Facebook hagelte es Herzchen und Likes. Patrick witzelte in den Kommentaren: „Zu hoffentlich unser aller Beruhigung: Es wird nicht Doro Bär sein!“
Anlass für den Artikel war ein Tanzvideo der 29-jährigen US-Politikerin Alexandria Ocasia-Cortez, das ihre Gegner als Skandal inszenierten. Das Filmchen, in dem die damals 21 Jahre alte Studentin auf Bostoner Dächern tanzte, war ziemlich professionell gemacht. AOC war darin weder nackt, noch betrunken. Es ist kein Skandalvideo.
Dieses Video als Argument für den unbeschwerten Umgang mit digitalen Medien heranzuziehen und das Internet als Ort zu bezeichnen, der „die Möglichkeit, sich ohne Druck auszuleben und selbst zu entdecken“ bietet, ist grober Unfug. Gerade bei jungen Menschen steckt oft sehr viel Druck dahinter und das Internet ist vieles, aber in drei Teufels Namen kein Ort, um sich selbst zu entdecken! Okay, ich kann auch im Bikini durch den Sūq von Riad laufen, um mich selbst zu entdecken – ist nur nicht sehr vernünftig… Aber was ist schon Vernunft, wenn Coolness viel cooler ist, oder wie es in dem Artikel heißt: „Klar, die sozialen Medien tragen Verantwortung für eine ganze Menge moderne Probleme. Aber sie sind auch immer noch verdammt cool.“ Mooooment, nicht nur die sozialen Medien tragen diese Verantwortung, sondern in erster Reihe all ihre Nutzerinnen und Nutzer! Facebook ist zwar für eine Menge verantwortlich, aber nicht dafür, dass ich kein Gehirn im Kopf habe…
Schmalzrieds Forderung nach einem „freie[n] und fröhliche[n] Internet“ gipfelt dann in der Aussage: „Wenn wir alle anfangen würden, uns online selbst zu zensieren, würde das Netz einiges an Farbe einbüßen – und vor dem Einheitslook der Facebook/Google-Herrschaft kapitulieren.“
Was sagt dieser Satz? Nehmen wir mal an, Facebook wäre MacDonald’s und das, worauf wir Appetit haben, ist Selbstdarstellung. Dann würde der Satz auf die Fastfoodkette übertragen lauten: „Wenn wir alle anfangen würden, uns Pommes und Burger zu verbieten, würde die Welt einiges an Farbe einbüßen – und vor dem Einheitsbrei der MacDonald’s-Herrschaft kapitulieren.“ Whaaat?!
Außerdem zensiert sich ohnehin schon jeder im Netz, der noch alle Tassen im Schrank hat. Wenn Bibi eine Rotzglocke aus der Nase hängt, postet sie das zum Beispiel nicht. Obwohl ich mir da bei einer Person, die sich mit Backzutaten beschmiert in einen Kühlschrank sperren lässt, gar nicht so sicher wäre…

MIT DEN MÖGLICHKEITEN WÄCHST AUCH DIE VERANTWORTUNG

Medienkompetenz bedeutet nicht nur, googeln zu können, was auch nicht jeder hinbekommt, weshalb sich die Seite lmgtfy.com – Let me google that for you – großer Beliebtheit erfreut. Mit den Möglichkeiten wächst auch die Verantwortung. Ich kann mich auch nicht ins Auto setzen und einfach losbrettern, ohne Verkehrszeichen und physikalische Gesetze zu beachten, die zum Beispiel nahelegen, von einem Zusammenstoß mit einem anderen Auto Abstand zu nehmen, weil das unter Umständen tödlich sein kann. Also, natürlich könnte ich das machen und zumindest vorübergehend vielleicht auch eine Menge Spaß dabei haben, aber schlau wäre es nicht…
Was also tun? Muss jetzt etwa jeder einen professionellen Workshop zum Thema Selbstvermarktung machen? Brauchen wir die Einführung eines Internetführerscheins? Sollten wir gleich ganz auf alles verzichten, so wie Robert Habeck, der sich nach dem Datenklau komplett aus den sozialen Netzwerken zurückgezogen hat? Oder reicht es zunächst mal, sich auf eine reflektierte Weise und nicht nach dem Motto „Ich will aber alles machen dürfen und keine Konsequenzen erleben!“ mit dem Thema auseinanderzusetzen?
Vielleicht sollte sich jeder eine Faustregel überlegen, die er dann so gründlich verinnerlicht, wie man als Kind lernt, zu gucken, bevor man über die Straße geht. Diese Regel müsste dann auch im Suff sitzen. Es könnte zum Beispiel so etwas sein wie: „Ich poste nur Dinge, die auch mein Mathelehrer, meine Oma, oder (sofern schon oder noch vorhanden) meine Schwiegermutter sehen dürften. Denn die sind natürlich auch im Netz. Bevor ich mir also einen auf eine Bohrmaschine gespießten Maiskolben ins Gesicht halte und mich dabei filme, wie rotierendes Getreide mir Zähne oder Haare aus dem Schädel reißt, eben nochmal innehalten: Würde Oma in Ohnmacht fallen oder sich im Grabe umdrehen? Ja? Nein? Vielleicht?

SCHWACHSTELLE MENSCH

Oftmals müssen Datendiebe also überhaupt nichts tun, um an das begehrte Gut zu kommen, weil Mitglieder von sozialen Netzwerken so vieles freiwillig preisgeben. Und für den Rest können menschliche Verhaltensweisen, die sich ganz leicht provozieren lassen, ausgenutzt werden. Sobald Gruppendynamiken im Spiel sind, geht fast alles, wie zahllose Challenges beweisen. Menschen essen Waschmittel, einen ganzen Löffel trockenen Zimt und ziehen ein Kondom durch die Nase hoch, um es durch den Rachen wieder zum Vorschein zu bringen. Der Stern titelte dazu: „Gefährliche Kondom-Challenge – warum Mediziner davor warnen.“ Erstaunlich, dass Mediziner davor warnen müssen, ein Kondom zu schnupfen und da offenbar viele nicht von selbst draufkommen…
Die größte Schwachstelle im Netz ist nicht die Technik, sondern der Mensch. Was nützen die sichersten Passwörter, wenn ein fingierter Telekom-Anruf uns dazu bewegt, sie einem vollkommen Fremden anzuvertrauen?
Social Hacking basiert auf Verhaltensweisen, die uns als soziale Wesen kennzeichnen. Vertrauen, Neugier und Autoritätshörigkeit veranlassen uns dazu, Dinge preiszugeben, die wir eigentlich für uns behalten wollen. Manipulationstechniken, die sich diese Eigenschaften zunutze machen, öffnen dem Missbrauch persönlicher Daten Tür und Tor. 2015 gelang es einem Schüler, sich Zugriff auf den privaten Email-Account des damaligen CIA-Direktors John O. Brennan zu verschaffen. Mehrere Tage durchstöberte der Junge Brennans Privatsphäre. Dabei musste der Schüler nicht einmal ein Passwort knacken. Sein Ziel erreichte er allein durch Täuschung eines Mitarbeiters des Mobilfunkanbieters Verizon und indem er AOL dazu gebracht hat, ein Passwort zurückzusetzen.
Bei Anrufen von Mitarbeitern eines Unternehmens, die zur Lösung eines technischen Problems Zugangsdaten erfragen, sollten also alle Alarmglocken schrillen. Aber mittlerweile müsste das jedem, der sich darüber wundert, dass der Enkeltrick heute noch funktioniert, auch langsam klar sein…

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